Wolkenwald

Der 5. August war der erste Tag meiner Kur auf Norderney. Das Wetter war durchwachsen und es wehte ein kräftiger Wind, der mich jedoch nicht davon abhielt, abends meinen ersten Spaziergang am Strand zu machen. Fasziniert beobachtete ich das Wolkenspiel am Himmel, durch das die Sonnenstrahlen wie ein leuchtender Vorhang fielen. Natürlich zückte ich mein Handy und fotografierte drauf los. Dann sah ich sie, die Insel am Himmel, und dachte: „Wolkenschloss.“ Je länger ich hinsah, desto mehr wuchs das Gebilde an und mein nächster Gedanke war: „Nein, nicht Wolkenschloss. Wolkenwald.“

Wieder in meinem Zimmer schnappte ich mir den Gedichtband von Rilke, den ich im letzten Moment vor der Abfahrt noch in meine Tasche gesteckt hatte und las dort weiter, wo ich aufgehört hatte.

Wer du auch seist: am Abend tritt hinaus
aus deiner Stube, drin du alles weißt;
als letztes vor der Ferne liegt dein Haus:
wer du auch seist.
Mit deinen Augen, welche müde kaum
von der verbrauchten Schwelle sich befrein,
hebst du ganz langsam einen schwarzen Baum
und stellst ihn vor den Himmel: schlank, allein.
Und hast die Welt gemacht. Und sie ist groß
und wie ein Wort, das noch im Schweigen reift.
Und wie dein Wille ihren Sinn begreift,
lassen sie deine Augen zärtlich los …
aus: Rainer Maria Rilke – Gedichte, Fischer Verlage

Mit dem Bild der Wolkenbäume frisch im Kopf und dem Bewusstsein, dass ich gerade mein Haus verlassen hatte, um in der Kur mal einen Blick von außen auf meinen Alltag zu werfen, hat mich dieses Gedicht gelinde gesagt umgehauen. Und da ich mir sowieso vorgenommen hatte, in der Kur Gedichte zu schreiben, war dies meine Antwort darauf:

Wolkenwald
Ich trat hinaus am Abend nach dem Regen,
konnt ob der Schwere kaum mehr mich bewegen,
hielt meinen tränend Kopf in meiner Hand.
Zu schauen weichen Klang von fernen Wellen,
ihr Sehnen mein Gemüt mir zu erhellen,
so stand ich fest verwurzelt dort an Land.
Hoch oben in den Wolken sah ich’s strahlen,
so weit entfernt von meinen täglich Qualen,
aus Farbenspiel gewachsen edler Wald.
Ach, könnt ich diese Wurzeln von mir reißen,
mich durch die Fesseln meines Alltags beißen,
Wolkengebilde wär’n mein nächster Halt.
Die Schwingen meines Herzens zucken müde,
doch das soll nicht ihr letzter Zustand sein.
Ich traue auf der Wellen sanfter Lieder,
lass fallen mich in starke Hände Dein.
(c) Annette Spratte 2021

Vielleicht sollte ich dazu sagen, dass ich an dem Tag ziemlich heftig Migräne hatte, mich aber trotzdem durch alle fünf Termine gequält habe, die für den Tag angesetzt waren. Kur ist schließlich kein Urlaub. So kam diese kuriose Gefühlsmischung aus Überlastung, Schmerz und Hoffnung zustande, dass ich in diesen drei Wochen in der Lage sein würde, mir mit Gottes Hilfe mit meinen müden Augen eine neue Welt zu schaffen. Denn Welten schaffen ist nun einmal eine meiner Spezialitäten.

Weitere Eindrücke und Gedichte aus der Kur werde ich in nächster Zeit hier im Blog veröffentlichen.

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